RWV 12-377 – 12-395 und 12-401 – 12-421
Ähnlich den „Gesängen des Maldoror“ oszillieren die hier ausgestellten Texte Rudolf Weidenauers zwischen dem qualvollen Schrei aus dem Verlies größter seelischer Not und dem Spott über ebendieses. Die in einer Schreibtischschublade nach dem Tod des Künstlers entdeckten Blätter erscheinen frei von den bekannten Formen künstlerischen Gestaltens und waren wohl nie für ein Ausstellen bestimmt. Gleichwohl wirken die teils eng gedrängten, teils luftig unzusammenhängenden Buchstaben zunächst grafisch reizvoll und erinnern etwa an Werke der konkreten Poesie. Aber das sind sie nicht. Sie sind vermutlich Teil einer individuellen Form der „écriture automatique“, die Rudolf Weidenauer in den letzten Jahren seines Lebens entwickelt hat oder zu entwickeln hoffte. Dabei erinnerte er sich der einst in der Schule erlernten Stenografie und übte diese – mithilfe von Übungsbüchern – erneut ein. In Gesprächen erklärte er, dass er sich von dieser Technik zweierlei erwarte: zunächst die Möglichkeit in Gedankengeschwindigkeit zu schreiben, was insbesondere bei gewissen ihn plagenden Grübelgedanken anspruchsvoll war, da diese die Tendenz zur unkontrollierbaren Beschleunigung hatten. Die zweite Hoffnung an diese Technik war bestürzend, denn Rudolf Weidenauer erwartete sich von ihr eine unmittelbare Erkenntnis, also eine Art Existenzerhellung durch das Lesen des selbst zuvor aufgeschriebenen Wortes. Diese Erkenntnis sollte nicht etwa durch jenen Inhalt der Worte gewonnen werden, den er selbst ihnen beim Schreiben beigelegt hatte, sondern durch einen zweiten, der ihm, dem Schreiber, gänzlich unbekannt war und der sich erst beim späteren Lesen der schnell geschriebenen Worte offenbarte. Worte, die somit vor dem Schreiber erschienen, wie die Worte eines Anderen. Diese Schreibpraxis war von Rudolf Weidenauers Haltung her eine magische Handlung und nicht etwa ein psychoanalytischer Kniff. Ein solches Wirken wird wohl kaum je geistig kohärent durchgeführt, weshalb er selbst diese Arbeitsweise an manchen Tagen verlachte, während er wohl an anderen ihr ergeben war, wie an einen religiösen Ritus.
In den mehr als zweihundert erhaltenen Blättern, von denen hier nur vierzig gezeigt werden können, finden sich Gewaltfantasien, rasende Selbstbezichtigungen, apokalyptische Ahnungen durchmischt mit alltäglichen Betrachtungen, kleinen Ermahnungen und simplen Verhaltenstipps. Mitunter ergießen sich Texte über dreißig Blätter hinweg, während andere auf ein einziges Blatt konzentriert sind. Zwischen den Schnellschreibblättern jener Schreibtischschublade fanden sich auch Zeichnungen und mit der Schreibmaschine geschriebene Texte, von denen sich nur erahnen lässt, das manche ihren Platz aufgrund einer assoziativen Ordnung des Künstlers fanden, andere wohl nur aus Zufall. (Hierin liegt ein Grundproblem und zugleich ein Faszinosum des Nachlasses von Rudolf Weidenauer). Eine zusammenhängende Lektüre ist schwierig und damit auch die überblickartige Beschreibung. Dies scheint einen Grund zu haben, der in der besonderen geistigen Haltung dieses Schreibens liegt und der mehr zu sein scheint, als die triviale Zensur des Unbewussten.
In Rudolf Weidenauers Bibliothek befanden sich die Werke von Deleuze, Artaud, Navratil, Freud, etc. zu genüge. Es darf angenommen werden, ihm war jene „Grenze von Mama und Papa“ (Deleuze) bekannt, die Eltern um ihr Kind errichten und die das Kind niemals durchdringen soll, so wie sie selbst stets vor der Mauer verblieben sind, die ihnen wiederum die eigenen Eltern errichtet haben. Der vor der Mauer sichtbare Weltbestand ist erschöpfend beschrieben und muss als hinlänglich bekannt gelten. Viele der Heroen der Kunst aus den letzten zwei Jahrhunderten sind dieses Weltbestandes müde gewesen und haben ihren Kopf durch gewisse Maueröffnungen geschoben. Rudolf Weidenauers Verwendung von Schrift mutet zuweilen wie ein ebensolcher Versuch an. Neben den bereits erwähnten magischen Erwartungen ist eine Auflösung zur Mehrdimensionalität auffällig. Viele Blätter folgen der herkömmlichen Ordnung, bei der die Buchstabenfolge von links nach rechts Sinn ergibt. Auf anderen Blättern aber ist die Leserichtung von oben nach unten. Teils in Reinform, bei der der einzelne Buchstabe allerdings viele Male (unsinnig?) von links nach rechts wiederholt wird, teils aber auch in Mischform, bei der das Auge springen muss von vertikaler zu horizontaler Leserichtung, um den Sinn zu entziffern. Fasste Rudolf Weidenauer hierbei die Buchstaben mehrdimensionaler auf? Erweiterte er ihren herkömmlichen Sinnort? Es scheint, als füge er die Buchstaben in ein Koordinatennetz, bei dem mittels zweier Abszissen ein jeder Punkt zweidimensional auf dem Blatt bestimmt wird, während die Sprachen dieser Welt sich jeweils für eine Abszisse entscheiden. Somit fehlt bei europäischen Sprachen ein Bezug des Buchstabens nach oben oder unten, bei asiatischen Emblemen zumeist der nach links und rechts. Auffällig ist, es gibt in keiner Sprache gleichzeitig den doppelten Sinn des sowohl horizontalen wie vertikalen*. In dem zweiachsigen Koordinatennetz des Weidenauerschen Schreibens wird nun auf einmal anderes bedeutsam, so Verdichtung, also das Buchstabengedränge einerseits oder Vereinzelung, die Buchstabenfreistellung andererseits. Den lexikalischen Sinn der Worte, so weit vorhanden, so weit entzifferbar, konnte der Künstler damit selbstverständlich nicht erweitern, der besteht aber auch nur aus der Zuordnung zu einem Artikel. Beim Betrachten der Texte freut sich somit das Auge über die Wiedererkennung des Bekannten und hangelt sich bereitwillig daran entlang. Nur liegt der springende Punkt eines Kunstwerkes kaum in der Rekognition des bekannten Weltbestandes, wie er im Lexikon eingeschlossen ist, sondern im Verlassen desselben. Und genau dazu diente das Schreiben Rudolf Weidenauers ihm selbst. (Frank Jödicke) ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------